Was ist denn nun Demenz?
Dieser Beitrag baut auf dem ersten Teil unserer Reihe „Demenz verstehen – Warnsignale richtig deuten und reagieren“auf. Nachdem wir dort die frühen Anzeichen einer Demenz betrachtet haben, geht es nun um die grundlegende Frage: Was ist Demenz eigentlich genau?
Demenz ist kein einheitliches Krankheitsbild, sondern ein Syndrom, das durch den fortschreitenden Verlust kognitiver, emotionaler und sozialer Fähigkeiten gekennzeichnet ist. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Demenz als ein „chronisches oder fortschreitendes Syndrom, das durch eine Störung höherer kortikaler Funktionen – Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen – gekennzeichnet ist“. Die Symptome sind so ausgeprägt, dass sie die Bewältigung alltäglicher Aktivitäten erheblich beeinträchtigen.
👉 Einfach erklärt:
Demenz bedeutet: Das Gehirn verliert nach und nach Fähigkeiten, die wir für das tägliche Leben brauchen – nicht nur das Erinnern, sondern auch Sprache, Orientierung oder Entscheidungen treffen. Es geht also um mehr als „nur Vergesslichkeit“.
Konkret: Welche Fähigkeiten verliert das Gehirn bei Demenz?
Wichtig vorweg: Das Profil ist je nach Demenzform unterschiedlich (Alzheimer, Lewy-Körperchen, vaskulär, frontotemporal etc.). Nicht jede Person hat alle Punkte – aber die aufgeführten Kategorien unten decken das Spektrum ab, das im Alltag relevant ist.
1) Gedächtnis (verschiedene Arten)
👉 Alltagsbeispiel:
Eine Person kocht regelmäßig ihr Lieblingsgericht. Im Verlauf der Demenz vergisst sie plötzlich die Zutaten oder verwechselt diese, obwohl sie das Rezept jahrelang im Kopf hatte.
Das Gedächtnis ist kein ein einziger Speicher, sondern besteht aus unterschiedlichen Systemen, die jeweils andere Informationen sichern. Bei einer Demenz werden diese Systeme unterschiedlich stark betroffen.
- Episodisches Gedächtnis – das Erinnern von Ereignissen und Erfahrungen.
Hier wird Neues am frühesten und stärksten beeinträchtigt, besonders bei Alzheimer. Betroffene können sich an kürzlich Gesagtes, Gesehenes oder Erlebtes nicht mehr erinnern.
Alltag: Gespräche werden wiederholt geführt, Termine sofort vergessen, Gegenstände verlegt. - Semantisches Gedächtnis – das „Weltwissen“ (Begriffe, Bedeutungen, Fakten).
Im Verlauf verlieren Betroffene den Zugang zu Wörtern oder deren Bedeutung.
Alltag: statt „Teekanne“ wird von „dem Ding“ gesprochen; Tiere, Pflanzen oder Personen werden verwechselt. - Arbeitsgedächtnis – Informationen für wenige Sekunden speichern und verarbeiten.
Komplexe Aufgaben wie Kopfrechnen oder mehrschrittige Anweisungen sind kaum möglich.
Alltag: „Hol den Kalender, trag den Termin ein und ruf an“ – schon beim zweiten Schritt stockt es. - Prospektives Gedächtnis – sich selbstständig an Zukünftiges erinnern.
Medikamente, Verabredungen oder alltägliche Aufgaben werden ohne Hilfen vergessen.
Alltag: Tabletten bleiben liegen, Herd bleibt an, Termine werden nicht eingehalten. - Quellengedächtnis/Kontextbindung – Wissen, woher eine Erinnerung stammt.
Betroffene wissen zwar „etwas“, aber nicht mehr „woher“ oder „mit wem“.
Alltag: „Das habe ich doch gelesen…“ – aber wann und in welchem Zusammenhang, bleibt unklar.
2) Aufmerksamkeit & Verarbeitungsgeschwindigkeit
👉 Alltagsbeispiel:
Beim Überqueren einer Straße fällt es schwer, gleichzeitig auf den Verkehr, die Ampel und Gespräche mit Begleitpersonen zu achten – die Situation wird schnell gefährlich.
Das Gehirn kann Reize nicht mehr so gut filtern oder gleichzeitig mehrere Dinge verarbeiten.
- Geteilte/selektive Aufmerksamkeit: Betroffene sind schnell abgelenkt oder überfordert, wenn mehrere Reize gleichzeitig auftreten.
Alltag: Beim Kochen und gleichzeitigen Gespräch kommt es zu Chaos. Im Supermarkt überfordern Lärm und viele Eindrücke. - Verlangsamung: Alle Denk- und Handlungsschritte laufen spürbar langsamer ab.
Alltag: Anziehen oder Einkaufen dauern deutlich länger, einfache Entscheidungen wie „Milch oder Saft?“ brauchen Minuten.
3) Exekutive Funktionen (Steuerzentrale im Frontalhirn)
👉 Alltagsbeispiel:
Die Person möchte eine Geburtstagsfeier organisieren, schafft es aber nicht mehr, Einladungen zu schreiben, Kuchen zu backen und Getränke bereitzustellen – die Planung bricht auseinander.
Dies sind die „Managerfähigkeiten“ des Gehirns, die Handlungen planen, steuern und kontrollieren.
- Planen & Organisieren: Schrittfolgen lassen sich nicht mehr in eine logische Reihenfolge bringen.
Alltag: Arztbesuche, Reisen oder selbst Behördenschreiben werden unmöglich ohne Hilfe. - Initiative & Antrieb: Betroffene starten von sich aus kaum noch Aktivitäten.
Alltag: Stundenlanges Sitzen ohne Beschäftigung – erst nach Aufforderung passiert etwas. - Inhibition (Impulskontrolle): Spontane Gedanken oder Handlungen werden nicht mehr gehemmt.
Alltag: Taktlose Bemerkungen, unüberlegte Ausgaben, plötzliche Gefühlsausbrüche. - Kognitive Flexibilität/Set-Shifting: Umdenken oder Umplanen fällt schwer.
Alltag: Wenn eine Straße gesperrt ist, bleibt die Person „stecken“ und findet keinen alternativen Weg. - Problemlösen/Urteilen: Folgen werden nicht erkannt, Risiken falsch eingeschätzt.
Alltag: Verträge werden unterschrieben, Tür wird Fremden geöffnet, Gefahren im Haushalt übersehen.
4) Sprache (Aphasie & pragmatische Sprache)
👉 Alltagsbeispiel:
In einer Unterhaltung bleibt die betroffene Person plötzlich mitten im Satz stehen und kann den Gedanken nicht zu Ende führen, obwohl sie genau weiß, was sie sagen wollte.
Sprache ist in allen Formen betroffen – sowohl beim Sprechen als auch beim Verstehen.
- Wortfindung (Anomie): Wörter fallen nicht ein, ersetzt durch Umschreibungen.
Alltag: „Das Ding zum Schreiben…“ statt „Kugelschreiber“. - Satzbildung: Sprache wird stockend oder grammatikalisch fehlerhaft.
Alltag: Sätze bleiben unvollständig: „Ich wollte… also das da…“ - Verstehen: Vor allem lange oder verschachtelte Sätze werden missverstanden.
Alltag: Bei ärztlichen Anweisungen kommt es zu falscher Medikamenteneinnahme. - Lesen/Schreiben: Briefe, Etiketten, Formulare sind kaum noch zu bewältigen.
Alltag: Medikamente falsch beschriftet, Überweisungen fehlerhaft. - Pragmatik (Kontextsprache): Tonfall, Ironie oder Gesprächsregeln gehen verloren.
Alltag: Witze werden nicht verstanden, Gespräche werden abrupt unterbrochen.
5) Visuell-räumliche & konstruktive Fähigkeiten
👉 Alltagsbeispiel:
Beim Tischdecken stellt die Person das Glas auf den Tellerrand statt daneben, weil Entfernungen und Positionen falsch eingeschätzt werden.
Das Gehirn verliert die Fähigkeit, räumliche Beziehungen zu verarbeiten.
- Räumliche Orientierung: Richtungen, Entfernungen und Landmarken sind schwer zu erfassen.
Alltag: Die Wohnung wird nicht mehr gefunden, Stolpern über Teppichkanten, unsicheres Einparken. - Konstruktion: Nachzeichnen, Zusammenbauen oder Bedienen technischer Geräte scheitert.
Alltag: Uhr kann nicht mehr abgelesen werden, Möbel werden falsch aufgebaut, Batterien verkehrt eingelegt.
6) Praxis (Apraxien – „Wie mache ich es?“)
👉 Alltagsbeispiel:
Beim Zähneputzen hält die Person die Zahnbürste zwar richtig, bewegt sie aber nicht zum Mund, sondern versucht, damit das Waschbecken zu reinigen.
Betroffene wissen zwar, was sie tun wollen, können aber die Bewegungen nicht mehr korrekt abrufen.
- Ideomotorische Apraxie: Einzelne Bewegungen sind gestört.
Alltag: Zähneputzen sieht ungewohnt aus, Bewegungen wirken unpassend. - Ideatorische Apraxie: Mehrschritt-Handlungen zerfallen.
Alltag: Kaffee machen: Wasser wird eingefüllt, Filter vergessen, Pulver verstreut. - Ankleideapraxie: Kleidungsstücke werden falsch angezogen.
Alltag: Hose über Hemd, Schuhe verkehrt herum, Kleidungsstücke ausgelassen.
7) Gnosis (Erkennen)
👉 Alltagsbeispiel:
Die betroffene Person sieht das Telefon, erkennt es aber nicht als solches – und versucht stattdessen, es wie eine Fernbedienung zu bedienen.
Es geht um die Fähigkeit, Dinge und Personen zu erkennen und richtig einzuordnen.
- Objekt-/Gesichtserkennen (Agnosie/Prosopagnosie): Gegenstände oder Personen werden nicht erkannt.
Alltag: Schlüsselbund wird nicht erkannt, Angehörige werden für Fremde gehalten. - Anosognosie (fehlende Krankheitseinsicht): Betroffene erkennen ihre Einschränkungen nicht.
Alltag: „Mir fehlt doch nichts!“ – führt oft zu Konflikten mit Angehörigen.
8) Soziale Kognition & Verhalten
👉 Alltagsbeispiel:
Bei einem Familienfest isst die betroffene Person von den Tellern anderer Gäste, weil sie die üblichen sozialen Regeln nicht mehr wahrnimmt.
Hier verändert sich das Erleben von Beziehungen und sozialen Normen. Besonders stark bei frontotemporaler Demenz.
- Empathie/Theory of Mind: Gefühle und Absichten anderer werden nicht mehr wahrgenommen oder können nicht mehr eingeordnet werden.
Alltag: Mitgefühl fehlt, Betroffene reagieren unangemessen. - Normen/Enthemmung: Soziale Regeln werden missachtet.
Alltag: Taktlosigkeiten, unangebrachte Kommentare, Berührungen ohne Distanz. - Apathie/Initiativverlust: Gleichgültigkeit ohne depressive Traurigkeit.
Alltag: Interessen gehen verloren, Hobbys werden aufgegeben, Rückzug in Passivität.
9) Emotion, Wahrnehmung & Psychose
👉 Alltagsbeispiel:
In den Abendstunden wird die Person zunehmend unruhig und überzeugt, dass jemand Fremdes im Haus ist – sie durchsucht Schränke oder verbarrikadiert die Tür.
Neben kognitiven Einschränkungen treten auch Störungen des Erlebens auf.
- Stimmungs-/Angststörungen: Gereiztheit, Ängstlichkeit oder depressive Phasen sind häufig.
Alltag: Rückzug aus sozialen Kontakten, plötzliche Aggressionen. - Halluzinationen/Wahnvorstellungen: Vor allem bei Lewy-Körperchen- und später bei Alzheimer-Demenz.
Alltag: Betroffene sehen Personen, die nicht da sind, oder verdächtigen Angehörige, Dinge zu stehlen. - Schlaf-Wach-Störungen: Der Tag-Nacht-Rhythmus ist oft verschoben.
Alltag: Nächtliches Umherwandern, Tagesschläfrigkeit, Unruhe am Abend („Sundowning“).
10) Motorik & Gangbild
👉 Alltagsbeispiel:
Beim Aufstehen aus dem Sessel friert die Person regelrecht ein („Freezing“) und kann den ersten Schritt nicht machen – sie bleibt wie angewurzelt stehen, bis Hilfe kommt.
Nicht nur Denken und Fühlen sind betroffen – auch Bewegungen verändern sich.
- Parkinsonismus: Bei Lewy-Körperchen-Demenz oder bestimmten Frontotemporalformen treten steife Bewegungen, Zittern und verlangsamter Gang auf.
Alltag: Feinmotorik beim Essen oder Knöpfen klappt nicht mehr, es kommt zu Stürzen. - Gangapraxie: Bewegungen sind unkoordiniert, obwohl die Muskeln funktionieren.
Alltag: Unsicheres Gehen, Starthemmungen („Freezing“), Probleme beim Treppensteigen.
Von der Fähigkeit zur Alltagsfolge: schnelle Zuordnung
| Domäne | Was ist gemeint? | Typische Alltagsfolgen/Signale |
|---|---|---|
| Episodisches Gedächtnis | Neues abspeichern | wiederholte Fragen, „Haben wir schon gegessen?“ |
| Arbeitsgedächtnis | Kurz halten & verarbeiten | scheitert an 2-Schritt-Anweisungen |
| Exekutive Funktionen | Planen/Steuern | Finanzen/Medikamente nicht mehr selbstständig |
| Sprache | Wortfindung/Verstehen | Umschreibungen, Missverständnisse, falsche Medikamenteneinnahme |
| Visuospatial | Raum, Distanzen | Verirren, Stolpern, falsches Einräumen/Einparken |
| Praxis | Handlungsabläufe | Kaffee/Kochen/Ankleiden bricht zusammen |
| Gnosis/Insight | Erkennen/Einsicht | erkennt Personen/Gegenstände nicht; lehnt Hilfe ab |
| Soziale Kognition | Empathie/Normen | Taktlosigkeit, Konflikte, „Charakterveränderung“ |
| Psychose/Schlaf | Halluzination/Wahn | „Die stehlen mir was“, nächtliches Umherwandern |
| Motorik | Bewegung/Feinmotorik | Stürze, langsames Gehen, Probleme mit Knöpfen |
Ausblick
Die bisherigen Ausführungen zeigen, welche Fähigkeiten das Gehirn im Verlauf einer Demenz verliert – und wie sich das im Alltag bemerkbar macht. Doch damit die Erkrankung rechtzeitig erkannt wird, ist es entscheidend, die ersten Warnsignale einer Demenz zu kennen und von normaler Altersvergesslichkeit unterscheiden zu können.
👉 Im nächsten Teil dieser Reihe geht es daher um die Warnsignale einer beginnenden Demenz – wie sie sich äußern, worauf Angehörige achten können und wie wir als Alltagsbegleiter*innen sensibel reagieren sollten.