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Entlassmanagement im Krankenhaus – zwischen Theorie und Wirklichkeit

Eigentlich soll das sogenannte Entlassmanagement sicherstellen, dass Patient*innen gut vorbereitet nach Hause gehen – mit Rezepten, Hilfsmitteln, Pflegeunterstützung und klaren Informationen. In der Theorie klingt das wunderbar, doch in der Praxis erleben viele etwas ganz anderes.

Inhaltsverzeichnis

1. Rechtlicher und organisatorischer Rahmen

Das Entlassmanagement ist seit 2015 gesetzlich verankert. Grundlage ist § 39 Absatz 1a SGB V, der klar festlegt: Gesetzlich Versicherte haben Anspruch auf ein strukturiertes Verfahren, das ihren Übergang von der Klinik in die weitere Versorgung sichert. Ziel dieser Regelung ist es, Versorgungslücken zu vermeiden und eine nahtlose Anschlussversorgung zu gewährleisten.

Um die Vorgaben konkret umzusetzen, haben der GKV-Spitzenverband, die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Deutsche Krankenhausgesellschaft einen Rahmenvertrag geschlossen. Dieser wurde im Laufe der Jahre mehrfach angepasst, zuletzt mit der zwölften Änderungsvereinbarung vom 3. Juni 2024, die seit dem 1. Juli 2024 gilt. Neu ist unter anderem, dass Patientinnen und Patienten, die mit mindestens drei Medikamenten entlassen werden, künftig Anspruch auf einen Medikationsplan haben. Der Vertrag verpflichtet Krankenhäuser außerdem dazu, multidisziplinär zusammenzuarbeiten, ein standardisiertes Entlassmanagement einzuführen, schriftliche und transparente Standards zu schaffen und bereits bei der Aufnahme mit einem Assessment und einer Entlassplanung zu beginnen. Auch die kurzfristige Verordnung von Leistungen wie spezialisierter ambulanter Palliativversorgung, Kurzzeitpflege oder Haushaltshilfe ist darin geregelt.

2. Praktische Umsetzung und Herausforderungen

Auf dem Papier ist das Ziel eindeutig: Patientinnen und Patienten sollen nach dem Klinikaufenthalt strukturiert, sicher und mit allen notwendigen Informationen in die nächste Versorgungsstufe übergeben werden. Dazu gehört ein Entlassplan, in dem medizinischer, pflegerischer und sozialer Bedarf dokumentiert wird. Die Vorgaben reichen von der Medikation über Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bis hin zu Hilfsmitteln oder Pflegediensten. Der Expertenstandard Entlassungsmanagement von 2019 geht sogar noch weiter und empfiehlt ausdrücklich Schulungs- und Informationsgespräche mit Betroffenen und Angehörigen sowie die Bereitstellung geeigneter Materialien und Räumlichkeiten.

In der Praxis sieht es jedoch anders aus. Eine Befragung des Sozialverbands VdK ergab, dass fast drei Viertel der Betroffenen negative Erfahrungen mit ihrer Entlassung gemacht haben. Häufig berichteten sie von mangelnder Information, fehlender Betreuung und der Erwartung, selbst die gesamte Organisation übernehmen zu müssen. Nicht selten erhielten Patientinnen und Patienten lediglich eine Liste mit Telefonnummern von Pflegediensten oder Einrichtungen – um alles Weitere sollten sie sich selbst kümmern. Gründe dafür sind schnell benannt: hoher Zeit- und Kostendruck in den Kliniken, zu wenig Personal im Sozialdienst, fehlende Koordination. Doch so nachvollziehbar diese Erklärungen sind – sie ändern nichts daran, dass Patientinnen und Patienten mitunter unversorgt nach Hause gehen.

Besonders gravierend wirkt sich die oft fehlende Kommunikation zwischen Klinik, Hausarzt und ambulanten Diensten aus. Entlassbriefe erreichen die Hausärztinnen und Hausärzte oft erst nach Tagen. Verordnungen für Medikamente oder Pflegeleistungen kommen zu spät, sodass Versorgungslücken entstehen. Das Risiko für Komplikationen, Stürze oder gar eine Wiedereinweisung steigt dadurch erheblich.

3. Stärken & Schwächen im Überblick

BereichStärken (Theorie)Schwächen (Praxis)
Gesetzliche BasisKlar definierter Anspruch, StandardsUmsetzung lückenhaft
Multidisziplinäre UmsetzungTeamarbeit vorgesehenAbstimmung oft mangelhaft
PatienteninformationEntlasspläne, Schulungen, MaterialienBeratung oft unzureichend
Verordnung von LeistungenKurzfristige Verordnung möglichAnträge nicht rechtzeitig
DigitalisierungKHZG-Pflicht zu digitalem EntlassmanagementRückstand groß
QualitätssicherungQS-Verfahren und Indikatorenwenig wirksam in der Praxis

4. Was bedeutet das für Betroffene?

Am stärksten spüren die Betroffenen selbst die Folgen. Schon vor der Entlassung herrscht bei vielen Unsicherheit. Sie wissen oft nicht, wann genau sie das Krankenhaus verlassen sollen, welche Unterstützung organisiert ist oder welche Hilfsmittel sie erwarten können. Anstelle von Genesung dominiert die Angst: „Wie geht es zu Hause weiter?“

Nach der Entlassung sind es in der Regel die Angehörigen, die einspringen müssen. Sie organisieren Pflegedienste, Hilfsmittel oder Haushaltshilfen – oft ohne Vorwissen und unter großem Zeitdruck. Hinzu kommt die Bürokratie, denn Anträge bei den Krankenkassen oder Genehmigungen für Kurzzeitpflege dauern meist länger, als die Realität es zulässt. Bis Lösungen gefunden sind, übernehmen Angehörige selbst die Pflege oder Betreuung – eine enorme Belastung, die körperlich und emotional an die Grenzen führt.

Noch problematischer wird es, wenn keine Angehörigen zur Verfügung stehen. Wer allein lebt, fällt leicht durch das Raster. Während gut vernetzte Familien vieles auffangen, sind alleinstehende Patientinnen und Patienten besonders gefährdet, unversorgt nach Hause geschickt zu werden.

Für die Hausärztinnen und Hausärzte entsteht eine weitere Schwierigkeit: Ohne rechtzeitige Information können sie nicht sofort in die Versorgung einsteigen. Der Entlassbrief liegt zu spät vor, Anschlussrezepte sind nicht ausgestellt, Pflegeverordnungen fehlen. So entstehen Lücken, die das gesamte Ziel des Entlassmanagements konterkarieren.

5. Kritische Betrachtung

Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist offensichtlich. Zwar existiert ein klares gesetzliches Fundament mit detaillierten Rahmenverträgen, Standards und Qualitätssicherungsinstrumenten. Doch in der Realität stehen überlastete Sozialdienste, fehlende digitale Systeme und Zeitdruck der Umsetzung im Weg. Häufig dient das Entlassmanagement eher dazu, die Verweildauer zu verkürzen und Rückfallrisiken betriebswirtschaftlich zu minimieren, anstatt die Patientenzentrierung in den Mittelpunkt zu stellen.

Auch die Digitalisierung, die mit dem Krankenhauszukunftsgesetz eigentlich gestärkt werden sollte, hinkt hinterher. Viele Kliniken arbeiten nach wie vor mit Fax und Papier, statt digitale Schnittstellen zu Hausärzten, Pflegediensten und Krankenkassen zu nutzen. Damit bleibt ein enormes Potenzial für schnellen Informationsfluss und echte Versorgungskontinuität ungenutzt.

6. Handlungsempfehlungen

Um das Entlassmanagement vom theoretischen Konstrukt zur wirksamen Praxis weiterzuentwickeln, braucht es mehrere Schritte. Entscheidend ist, dass Kliniken ihre Sozialdienste stärken – personell und fachlich. Nur so kann frühzeitig mit Patientinnen und Patienten gesprochen und ihre Situation realistisch geplant werden. Schon bei der Aufnahme sollte klar sein, welche Anschlussversorgung gebraucht wird, damit Angehörige und Hausärzte rechtzeitig eingebunden werden können.

Die Digitalisierung muss endlich konsequent umgesetzt werden. Digitale Entlassbriefe und standardisierte Schnittstellen würden den Informationsfluss massiv verbessern und Hausärzten ermöglichen, sofort nach der Entlassung einzusteigen. Gleichzeitig sollten die Erfahrungen der Betroffenen systematisch erhoben und als Qualitätsindikatoren veröffentlicht werden. Nur wenn offen sichtbar ist, wo es hakt, können Kliniken gezielt gegensteuern.

Nicht zuletzt muss die Patientenzentrierung gestärkt werden. Informationsmaterialien in verständlicher Sprache, mehrsprachige Angebote und Schulungen für Angehörige können entscheidend dazu beitragen, Unsicherheiten zu reduzieren und die Selbstständigkeit zu fördern.

7. Fazit

Das Entlassmanagement ist in der Theorie ein starkes Instrument: Es soll Patientinnen und Patienten den Übergang von der Klinik in die nächste Versorgung erleichtern und Risiken minimieren. Die gesetzlichen Grundlagen sind klar, die Verträge und Standards detailliert. Doch in der Realität bleibt das Versprechen oft unerfüllt. Betroffene erleben Unsicherheit, Überforderung und gefährliche Versorgungslücken.

Damit das Entlassmanagement seinem Namen gerecht wird, braucht es vor allem mehr Personal, bessere Abstimmung und eine konsequente Digitalisierung. Erst wenn Patientinnen und Patienten sowie ihre Angehörigen das Krankenhaus mit dem Gefühl verlassen, wirklich begleitet und abgesichert zu sein, erfüllt das Entlassmanagement seinen eigentlichen Zweck.

Und genau hier kommen wir Alltagsbegleiter*innen ins Spiel. Wir sehen jeden Tag, wie groß die Unsicherheit bei einer Entlassung sein kann und wie überfordert Angehörige oft sind. In solchen Momenten sind wir da, um diese Versorgungsspitzen aufzufangen. Wir sind nah dran an den Menschen, kennen die Wege im Viertel, haben Kontakte zu Pflegediensten, Ärzt*innen und Hilfsangeboten. Gerade diese gute Vernetzung macht es möglich, schnell Lösungen zu finden, wenn die offizielle Versorgung ins Stocken gerät. Wir wissen aus unserer täglichen Arbeit: Oft ist es genau diese Nähe, die Betroffenen Sicherheit gibt und dafür sorgt, dass sie zu Hause wieder ein Stück Stabilität finden.


❓ Wie erlebst du Entlassungen aus dem Krankenhaus?
Wir sehen oft, dass Betroffene und Angehörige nach der Entlassung völlig überfordert sind – und wir Alltagsbegleiter*innen kurzfristig einspringen müssen.
👉 Hast du solche Situationen auch schon erlebt? Teile deine Erfahrung mit uns – gemeinsam machen wir sichtbar, wo Unterstützung fehlt. Schreib uns Deine Erfahrungen an: hallo@alltagsbegleitung.digital